Eine neue Außenpolitik für Europa

von Jeffrey Sachs, Originaltitel: A New Foreign Policy for Europe

Die Europäische Union braucht eine neue Außenpolitik, die auf den wahren Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen Europas basiert. Europa befindet sich derzeit in einer selbstgeschaffenen Wirtschafts- und Sicherheitsfalle, die durch die gefährliche Feindseligkeit gegenüber Russland, das gegenseitige Misstrauen gegenüber China und die extreme Verletzlichkeit gegenüber den USA gekennzeichnet ist. Europas Außenpolitik wird fast ausschließlich von der Angst vor Russland und China bestimmt – was zu einer Sicherheitsabhängigkeit von den USA geführt hat.

Europas Unterwürfigkeit gegenüber den USA rührt fast ausschließlich von der allgegenwärtigen Angst vor Russland her, die durch die russophoben Staaten Osteuropas und eine falsche Darstellung des Ukraine-Kriegs noch verstärkt wurde. Ausgehend von der Überzeugung, dass Russland ihre größte Sicherheitsbedrohung darstellt, ordnet die EU alle anderen außenpolitischen Fragen – Wirtschaft, Handel, Umwelt, Technologie und Diplomatie – den USA unter. Ironischerweise hält sie eng an Washington fest, obwohl die USA in ihrer eigenen Außenpolitik gegenüber der EU schwächer, instabiler, unberechenbarer, irrationaler und gefährlicher geworden sind – und sogar so weit gehen, die europäische Souveränität in Grönland offen zu bedrohen.

Um eine neue Außenpolitik zu gestalten, muss Europa die falsche Annahme seiner extremen Verwundbarkeit gegenüber Russland überwinden. Das Brüssel-NATO-Großbritannien-Narrativ geht davon aus, dass Russland von Natur aus expansionistisch sei und Europa überrennen werde, wenn sich die Gelegenheit dazu biete. Die sowjetische Besetzung Osteuropas von 1945 bis 1991 soll diese Bedrohung heute verdeutlichen. Dieses falsche Narrativ missversteht das russische Verhalten in Vergangenheit und Gegenwart grundlegend. Der erste Teil dieses Essays zielt darauf ab, die falsche Annahme zu korrigieren, dass Russland eine ernste Bedrohung für Europa darstelle. Der zweite Teil blickt voraus auf eine neue europäische Außenpolitik, sobald Europa seine irrationale Russophobie überwunden hat.

Die falsche Prämisse des russischen Westimperialismus
Europas Außenpolitik basiert auf der angeblichen Sicherheitsbedrohung Europas durch Russland. Doch diese Prämisse ist falsch. Russland wurde in den letzten zwei Jahrhunderten wiederholt von den großen Westmächten (insbesondere Großbritannien, Frankreich, Deutschland und den USA) angegriffen und strebt seit langem Sicherheit durch eine Pufferzone zwischen sich und den Westmächten an. Die stark umkämpfte Pufferzone umfasst das heutige Polen, die Ukraine, Finnland und die baltischen Staaten. Diese Region zwischen den Westmächten und Russland stellt die größten Sicherheitsprobleme Westeuropas und Russlands dar.

Zu den wichtigsten westlichen Kriegen gegen Russland seit 1800 gehören:

  • Die französische Invasion Russlands 1812 (Napoleonische Kriege)
  • Die britisch-französische Invasion Russlands 1853–1856 (Krimkrieg)
  • Die deutsche Kriegserklärung an Russland am 1. August 1914 (Erster Weltkrieg)
  • Die alliierte Intervention im Russischen Bürgerkrieg 1918–1922 (Russischer
    Bürgerkrieg)
  • Die deutsche Invasion Russlands 1941 (Zweiter Weltkrieg)

    Jeder dieser Kriege stellte eine existenzielle Bedrohung für Russlands Überleben dar. Aus russischer Sicht stellen die gescheiterte Entmilitarisierung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, die Gründung der NATO, die Aufnahme Westdeutschlands in die NATO im Jahr 1955, die NATO-Osterweiterung nach 1991 und der anhaltende Ausbau der US-Militärstützpunkte und Raketensysteme in Osteuropa nahe der russischen Grenze die größten Bedrohungen für die nationale Sicherheit Russlands seit dem Zweiten Weltkrieg dar.

Russland ist auch mehrfach nach Westen vorgedrungen:

  • Russlands Angriff auf Ostpreußen 1914
  • Der Ribbentrop-Molotow-Pakt 1939, der Polen zwischen Deutschland und der Sowjetunion aufteilte und 1940 die baltischen Staaten annektierte
  • Die Invasion Finnlands im November 1939 (Winterkrieg)Die sowjetische Besetzung Osteuropas von 1945 bis 1989
  • Die russische Invasion in der Ukraine im Februar 2022

Diese russischen Aktionen werden von Europa als objektiver Beweis für Russlands Expansionismus nach Westen gewertet, doch diese Sichtweise ist naiv, unhistorisch und propagandistisch. In allen fünf Fällen handelte Russland zum Schutz seiner nationalen Sicherheit – so sah es dies – und nicht zum Selbstzweck. Diese grundlegende Wahrheit ist der Schlüssel zur Lösung des heutigen europäisch-russischen Konflikts. Russland strebt nicht nach Westexpansion, sondern nach seiner nationalen Sicherheit. Doch der Westen erkennt die zentralen nationalen Sicherheitsinteressen Russlands schon seit langem nicht an, geschweige denn, dass er sie respektiert.

Betrachten wir diese fünf Fälle der angeblichen Westexpansion Russlands.
Der e r s t e Fall, Russlands Angriff auf Ostpreußen 1914, kann hier zunächst außer Acht gelassen werden. Das Deutsche Reich hatte Russland am 1. August 1914 als erstes den Krieg erklärt. Russlands Einmarsch in Ostpreußen war eine direkte Reaktion auf die deutsche Kriegserklärung.

Das gesamte Dokument steht dir beim Klicken auf den Button zur Verfügung.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.